Harry ahnt es
Harry ahnt es
Schon beim Aufwachen ahnte Harry, dass heute sein letzter Tag angebrochen war. Natürlich konnte er es nicht wissen. Es war lediglich eine Ahnung. Harry war besonders gut im Erahnen. So ahnte er an jedem Morgen in der Warteschlange beim Bäcker im voraus, wer welches Stück kaufen würde, ohne ihm vorher schon einmal begegnet zu sein. Dabei lag er immer richtig. Auch im morgendlich dahinkriechenden Verkehr konnte er sich zu jedem beliebigem Zeitpunkt ein Fahrzeug irgendwo in der Spur vor ihm aussuchen und ahnte die Richtung, in die es bei nächster Gelegenheit abbiegen würde. Auch hier lag seine Trefferquote bei nahezu einhundert Prozent. Er konnte es nicht erklären. Es war eben so. Leider funktionierte es nicht in so lohnenden Bereichen wie Lotto oder Pferdewetten. Harry vermutete, dass es eine Verbindung von Folge und Erfolg seiner Ahnung geben musste. Änderte die Ahnung sein Leben wesentlich, wie es bei einem Millionengewinn zwangsläufig der Fall wäre, versagte seine Fähigkeit. Ob jemand vor ihm links oder rechts abbog oder Muffins bevorzugte, war für den weiteren Verlauf seines Lebens jedoch völlig belanglos. Und schon klappte es.
Das war heute anders. Die Gewissheit, den letzten Tag auf Erden zu erleben, ordnete Harry ohne zu zögern als folgenreich für sein -wenn auch nur noch kurzes- Leben ein. Und dennoch war er sich dieser Ahnung absolut sicher. Die Ahnung fühlte sich genauso an, wie er es von seinen erfolgreichen Treffern kannte. Unverrückbar, unerschütterlich wie massiver Fels. Kein Zweifel.
Harry wankte ins Bad. Er überlegte, ob er rasiert abtreten sollte. Er entschied sich dagegen. Interessierte dann ja eh niemanden mehr. Zähneputzen fand er dagegen unbestreitbar wichtig. Auch am letzten Tag.
Beim Bäcker tippte er für alle fünf Wartenden vor ihm die richtigen Stücke. Jedes Auto vor ihm bog wie immer in die erahnte Richtung ab. Alles wie immer. Harry stutzte. Weshalb eigentlich sollte an seinem letzten Tag alles wie immer sein? War das nicht ein Gedankengebäude, das jeder schon einmal durchschritten hatte? Was würdest du tun, wenn du nur noch 24 Stunden usw.. Er stoppte. Er stieg aus. Er ging in den Park und setzte sich auf eine Bank. Unschlüssig spielte er in Gedanken die naheliegendsten Möglichkeiten durch. Banküberfall? Zu aufregend. Kasino? Zu weit weg. Dem Boss richtig die Meinung sagen? Er mochte seinen Boss.
Ein Hund geriet in sein Blickfeld. Er tänzelte frei und mit unschuldiger Miene um das Schild “Hunde bitte anleinen” herum. Harry überlegte, ob er etwas dagegen tun sollte. Normalerweise mochte er keinen Ärger. Heute war aber kein normaler Tag. Und wäre es nicht ein Anfang? Eine erste kleine Revolution? Damit dieser letzte Tag nicht wie alle vorherigen einfach dahinplätscherte, um am Ende genauso bedeutungslos zu versickern? Er nahm einen kräftigen Ast und Blickkontakt mit dem Hund auf. Harry wedelte mit dem Ast. Der Hund wedelte mit dem Schwanz. Seine Blicke folgten dem Ast. Harry warf ihn mit kräftigem Schwung parkauswärts. Der Hund hechtete sofort hinterher. Harry schmunzelte. Sollte der Besitzer sich ruhig wundern, sofern er sein Tier überhaupt vermisste. Sollte er sich die Lippen wund pfeifen. Ja, die Vorstellung gefiel Harry. Er schmunzelte erneut mit dem geistigen Bild eines völlig aus der Puste geratenen Herrchens vor Augen, das vergeblich nach seinem Hund pfeift und pfeift.
Bremsen quietschten. Sehr laut. Und in der Art, die einen anschließenden, ebenfalls sehr lauten Knall erwarten lassen. Der Knall kam. Er war jedoch noch lauter als Harry erwartet hatte. Zudem blieb es nicht bei dem einen Knall. Es folgte eine ganze Kette metallischer und von splitterndem Glas begleiteten Donnerschlägen, immer wieder eingeleitet von der Ouvertüre kreischender Bremsen und gequältem Reifengummi, der über den Asphalt geschleift wird. Harry fuhr hoch und sah in die Richtung, aus der die lauten Geräusche kamen. Es war auch genau die Richtung, in die er eben den Ast geworfen hatte. Er musste weit geworfen haben, offenbar mitten auf die Kreuzung hinter dem Parkausgang. Harry sah den Hund etwas weiter weg mit dem Ast im Maul in gebückter Haltung davontrotten. Davor waren mehrere Fahrzeuge ineinander verknotet. Aus der an einen großen, dampfenden Hundehaufen erinnernden Schrottmasse stieg Rauch auf. Wild gestikulierende Menschen liefen aufgeregt fuchtelnd durcheinander.
Dann sah Harry den Tanklastzug. Er bog in der Ferne in die Unglücksstraße ein und steuerte direkt auf den sich chaotisch windenden, rauchenden Knoten aus verformten Autos und schockierten Fahrern zu. Seine Umrisse waren noch weit entfernt. Weit genug um rechtzeitig bremsen zu können. Harry starrte auf den wuchtigen Truck, der immer näher kam. Jetzt musste er langsamer werden. Hektisch sprangen seine Augen nun zwischen Lastzug und den orientungslos herumwandernden Menschen auf derselben Straße hin und her. Dann ahnte Harry, was als nächstes passieren würde. Es war eine tiefe, sichere Ahnung. So sicher, wie sie ihm noch niemals vorher erschien. Der Fahrer des Trucks würde nicht langsamer werden. Er würde auch nicht bremsen. Er musste durch irgendetwas abgelenkt sein. Harry musste das Schlimmste verhindern. Wieder sah er zu den Herumirrenden, die die drohende Gefahr nicht bemerkten. Immer noch wuchs die Silhouette des Lastzugs.
— Fortsetzung folgt —